Lefebvre: "Man wird die Bruderschaft spalten"

Quelle: Distrikt Deutschland

„Ein Liberaler muss nicht notwendigerweise häretisch sein. Wissen Sie, der Liberalismus hat eine gewisse Bandbreite... Jener Liberalismus, jener fundamentale, radikale Liberalismus, der eine Sünde ist, ja, der ist gewiss eine Häresie. Es gibt aber außerdem auch den Liberalismus der Lauen...

Es gibt graduelle Unterschiede, viele Nuancen, bis hin zu einem Anflug von Liberalismus. Aber unter dem Vorwand, da sei ein Anflug von Liberalismus, zu sagen: ‚Jener dort ist häretisch! So wie derjenige, der die liberalen Prinzipien des 18. Jahrhunderts hat, die häretisch sind!' Da gibt es jedoch einen Unterschied...



Wir müssen die Dinge realistisch sehen! Und wir müssen nicht sofort sagen, weil ein guter Katholik, den Sie kennen, ein Mann, der Ihren Glauben teilt, das Unglück hatte, einen Satz zu äußern, der ein wenig zweideutig ist – sicherlich hat er sich getäuscht, oder er hat sich schlecht ausgedrückt –: ‚Oh! Jener dort ist ein Liberaler, er ist ein Häretiker, wahrscheinlich ist er Freimaurer!' Aber genau das geschieht sehr schnell! Dieser Geist ist erschreckend!

Man muss da sehr aufmerksam und vorsichtig sein. Ich erhebe keinesfalls den Anspruch, unfehlbar zu sein, ich versuche, unter den Gegebenheiten zu kämpfen, in denen wir uns befinden, in den Zeiten, in denen wir uns befinden, mit all dem Glauben, den man aufzubringen versuchen kann, allem Glauben, den man haben kann, und mit dem Gebet und der Unterstützung durch die Gnade. Selbstverständlich zähle ich auf den lieben Gott. Nochmals: ich erhebe nicht den Anspruch, unfehlbar zu sein, aber ich denke trotzdem, dass die Bruderschaft sich ganz allgemein an eine realistische Grundlinie hält, eine Grundlinie, die nicht verlassen werden darf und von der man sich nicht entfernen darf, sonst spaltet man die Bruderschaft, und das Weiterleben wird unmöglich sein.

Man muss auch akzeptieren, dass es Nuancen gibt. Wir können ja nicht alle nach dem gleichen Strickmuster gestrickt sein. Da muss man also eine gewisse Toleranz haben, möchte ich sagen, gegenüber den Mitbrüdern, den Freunden, gegenüber jenen, mit denen man lebt, immer vorausgesetzt, dass die Grundprinzipien die gleichen sind. Es ist ja durchaus möglich, dass es Unterschiede gibt, dass es einige gibt, die eher versucht sind, in allem strikter und starrer zu sein. In jeder Art von Spiritualität liegt eine ganz allgemeine Spiritualität, die Ihnen gegeben ist; und dann hat ein jeder von Ihnen eine eigene Praxis der Spiritualität, die Ihnen mehr entspricht, Heilige, die Sie anderen vorziehen, Schutzpatrone, die Sie vorziehen. So unterscheidet sich dann notwendigerweise ein jeder ein wenig vom anderen. Man muss sich also gegenseitig ertragen können, wenn dem keine wirklich gravierenden Dinge entgegenstehen. Aber wir dürfen keinen Geist der Intoleranz hineintragen, einen Geist, der absolut unmöglich wird, der nicht mehr priesterlich und auch nicht mehr christlich ist."

Erzbischof Marcel Lefebvre: Vortrag vor den Seminaristen, Ecône, 16. Januar 1979