Fastenzeit: Ein kurzer Weg zur Vollkommenheit

Quelle: Distrikt Deutschland

Eine Kurzbetrachtung von John Henry Newman

Im Matthäus-Evangelium findet sich am Ende des 5. Kapitels – der Einleitung zur Bergpredigt – die Aufforderung des Herrn: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Wird hier nicht eine unerreichbare Forderung in den Raum gestellt? Der hl. John Henry Kardinal Newman (1801–1890) hat in einer kleinen Betrachtung einen „kurzen Weg“ zur Vollkommenheit gewiesen:

Nach den Worten Heiliger brauchen wir um vollkommen zu sein, nichts weiter zu tun, als die gewöhnlichen Pflichten des Tages gut zu erfüllen.  

Ein kurzer Weg zur Vollkommenheit – kurz, nicht weil er leicht zu gehen, sondern weil er zweckdienlich und klar ist. Es gibt keine kurzen, aber sichere Wege zur Vollkommenheit! 

Ich glaube, diese Lehre ist von großem praktischem Nutzen für uns. Er ist leicht, von der Vollkommenheit verschwommene Vorstellungen zu haben, die oft genug dazu dienen, über sie zu reden, wenn wir ihr nicht nachstreben wollen. Sobald aber der Mensch ernstlich nach ihr verlangt und sie zu suchen beginnt, wird ihn nur das befriedigen, was erreichbar und klar vor ihm liegt und ihm eine Richtung weist, sie zu üben.

Wir müssen im Auge behalten, was unter Vollkommenheit zu verstehen ist. Sie bedeutet nicht etwas Außerordentliches, etwas Ungewöhnliches oder besonders Heldenhaftes – nicht alle haben Gelegenheit, Helden oder Märtyrer zu werden – Vollkommenheit bedeutet, was das Wort im gewöhnlichen Sinne besagt. Vollkommen heißen wir etwas, das fehlerlos, vollständig, dauerhaft und gesund ist – wir meinen das Gegenteil von unvollkommen. Da wir sehr gut wissen, was Unvollkommenheit im religiösen Leben bedeutet, zeigt uns der Gegensatz, was Vollkommenheit ist.

Der also ist vollkommen, der sein Tagewerk vollkommen vollbringt, mehr brauchen wir nicht zu tun, um nach Vollkommenheit zu streben. Wir brauchen über den Kreis der täglichen Pflichten nicht hinauszugehen. – Ich betone das, weil ich glaube, dass dadurch unsere Anschauungen vereinfacht und unsere Anstrengungen auf ein erreichbares Ziel eingestellt werden. Wenn du mich fragst, was du tun musst, um vollkommen zu sein, so sage ich dir: 

bleibe nicht im Bette liegen, wenn es Zeit ist, aufzustehen, 

die ersten Gedanken weihe Gott,  

mache einen andächtigen Besuch beim allerheiligsten Sakrament,  

bete fromm den Angelus,  

iss und trink zu Gottes Ehre,  

bete mit Sammlung den Rosenkranz,  

sei gesammelt,  

halte böse Gedanken fern,  

mache deine tägliche Betrachtung gut,  

erforsche jeden Tag dein Gewissen,  

geh zur rechten Zeit zur Ruhe 

… und du bist bereits vollkommen.