Erzbischof Marcel Lefebvre: Die Demut

Quelle: Distrikt Deutschland

Monats-Wort als Generalober der Spiritaner (Mai/Juni 1968)

In der Tat fürchte ich, dass der Geist, der heutzutage viele Reformwütige leitet, dieser grundlegenden Tugend der Geisteshaltung nach dem Evangelium geradewegs zuwiderläuft. Die Auffassung des Gehorsams, des gemeinschaftlichen Lebens, des Apostolates, ja selbst der Heiligkeit stellt jetzt die persönliche Berufung an die erste Stelle, die Gnadengabe, die Würde der menschlichen Person, die die Achtung vor den persönlichen Vorstellungen verlangt sowie vor den persönlichen Ausrichtungen. Wie können wir diese Auffassung mit der Demut vereinbaren? Unser ehrwürdiger Vater François Libermann sagt: „Die demütige Seele ist gefügig im Gehorsam, sie gehorcht mühelos und ohne Widerstreit, weil sie ohne Anhänglichkeit an ihren eigenen Willen ist. Die Demut ist die Mutter der Regelmäßigkeit, die Stütze der brüderlichen Einmütigkeit und die festeste Bürgschaft für die Unterordnung.“ (Geistliches Direktorium der Spiritaner 220).

Es ist offensichtlich, daß unser Herr uns dieselbe Lehre gebracht hat. Discite a me, quia mitis sum et humilis corde (Mt 11,29) ... „Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen ...“ Omnis qui se exaltat, humiliabitur: et qui se humiliat exaltabitur (Luk 18,14) „Wer sich erhebt, wird erniedrigt werden, und wer sich erniedrigt, wird erhöht werden.“

Und wie viele Textstellen könnten wir zitieren von den Aposteln und besonders das Beispiel unseres Herrn, von dem der hl. Paulus im zweiten Brief an die Philipper spricht: Semetipsum exinanivit ... humiliavit semetipsum factus obediens ... propter quod et Deus exaltavit illum ... „Er hat sich selbst zunichte gemacht ... Er hat sich selbst erniedrigt ... deshalb hat ihn Gott erhöht“. Auch die Lehre der heiligen Jungfrau Maria ist es, wenn sie singt: Respexit humilitatem ancillae suae ... Alle Heiligen haben ein lebendiges Vorbild dieser Tugend erbracht, welche die conditio sine qua non (die unabdingbare Voraussetzung) für die Gegenwart Gottes in einer Seele ist. Der hl. Thomas von Aquin sagt von dieser Tugend, dass “sie indirekt die erste ist, sie räumt die Hindernisse beiseite, denn in der Tat verbannt die Demut die Überheblichkeit und macht so den Menschen gelehrig und offen für den Einfluss der Gnade Gottes, welcher den Hochmütigen widersteht und den Demütigen seine Gnade gibt“ (IIa, IIae, q. 161, a 3 u. 5).

Es ist also klar, dass jede Reform, jede Anpassung an die heutige Zeit, die nicht in Richtung einer größeren Demut, in Richtung einer großen Entäußerung unseres Eigenwillens, unserer Eigenliebe ginge, die die Tugend des Gehorsams zugrunde richten würde, die eben dadurch den Gemeinschaftsgeist und den Geist des innerlichen Gebetes zerstören müsste, zum Zerfall jeder Ordensgemeinschaft beitragen würde, welche ja in ihrem Wesen auf das Streben nach Heiligkeit gegründet ist, das die unerlässliche Bedingung jedes wirkungsvollen Apostolates darstellt. Dies genau ist die wahrhaftige Geisteshaltung unseres verehrungswürdigen Vaters. Er ist geradlinig und strahlend wie das Evangelium selbst.

Wie fruchtbar wäre ein Generalkapitel, das mit Macht diese Tugenden hervorheben wollte, das so die begeisterten Quellen unserer Anfänge wiederfinden würde. Es könnte genügen, die grundlegenden Abschnitte über diese Themen bei unserem Ehrwürdigen Vater zu zitieren, um die wahren Wege zur Heiligkeit und zum wahrhaftigen Apostolat wiederzufinden. Sehen wir uns vor, dass wir uns nicht von diesen heutigen Bestrebungen mitreißen lassen, die selbst die bestbegründete Autorität „bestreiten“, die sich vor jeder Hierarchie entsetzen, die sich unwillkürlich gegen den gesamten Glauben auflehnen, der völlig aus Autorität besteht. All dies stammt vom Geist aus dem Abgrund und nicht vom Heiligen Geist.

Für uns, die wir Missionare sind, ist es äußerst nützlich, wenn wir uns daran erinnern, dass die Tugend der Demut das Geheimnis des wirklichen Apostolates ist. Wahrhaftig, der demütige Missionar sieht und beurteilt alles entsprechend dem Geist des Glaubens und den Ansichten Gottes. Er setzt sich an seinen richtigen Platz, den eines Werkzeugs und Dieners, wenn er die Wirkung der Gnade Gottes erkennt. Er betrachtet jede menschliche Person in ihren Verbindungen zum Geist Gottes, zur Gnade unseres Herrn. Daher bleibt er geduldig, verständnisvoll und barmherzig angesichts von Herzen, die sich der Gnade zu verschließen scheinen, aber er bleibt deshalb genauso ausdauernd bei seinem Tun, immer voller Hoffnung bei seinem Gelingen und selbst beim Misserfolg.

Der demütige Missionar entdeckt wie durch einen übernatürlichen Antrieb die Wege und Handlungsweisen des Apostolates, die in sich die Gnade des Heiligen Geistes bergen. Er vermeidet alles, was der menschlichen Tätigkeit einen zu großen Platz einräumt, was das Werkzeug herausstellt auf Kosten des wahren und einzigen Apostels. Er ist mehr zum Gebet geneigt als zur Diskussion, mehr angezogen vom Ausüben der Tugend als dazu, lehrreiche Abhandlungen darüber zu verfassen.

„Versucht also, dass ihr euch in dieser schönen und wichtigen Tugend fest gründet. Mit ihr werden euch alle anderen leichtfallen ...“ (Geistliches Direktorium der Spiritaner, S. 221)